Persönlichkeitsentwicklung
13. Oktober 2013

Der Storch, der sich nicht fliegen traute

Von Alexander Rubenbauer, Nürnberg
 

Es saß einmal eine Storchenfamilie in ihrem Nest, hoch droben. Vater und Mutter zogen drei Storchenkinder auf, sie hegten sie und pflegten sie und versorgten sie mit Nahrung. Den Storchenkindern hat es an nichts gefehlt, sie fühlten sich wohl.

Eines Tages war es dann soweit. Zwei der Storchenkinder gingen mit ihrem Vater an den Rand ihres Nestes und er machte ihnen vor, wie man abspringt und sogleich mit den Flügeln zu schlagen beginnt. Das war zweifellos der aufregendste Moment im Leben eines Storches, der noch nie selbst geflogen ist. Natürlich weiß er, dass er auch ein Storch ist, der mit den Flügeln schlagen kann wie alle anderen auch, aber ob seine Flügel auch tatsächlich so funktionieren wie sie sollen und ob er tatsächlich fliegen kann, das weiß er nicht, er kann es nur hoffen.

So sprang also zuerst der eine kleine Storch und dann der andere. Beide waren sie sehr zögerlich und begannen, als sie sich überwunden haben und sprangen, unvermittelt wie wild mit den Flügeln zu schlagen, und schon nach wenigen Flügelschlägen merkten sie, wie es funktioniert und begannen, die neu gewonnene Freiheit zu genießen.

Sie waren nicht länger auf die 50 Zentimeter beschränkt, die ihnen ihr Nest bot, nun konnten sie hin, wo immer sie wollten, neue Orte entdecken, Freundschaften schließen und ihr eigenes Futter holen, ohne auf ihre Eltern oder andere Störche angewiesen zu sein.

Der dritte Storch aber traute sich nicht. Natürlich sah er, dass die anderen beiden Störche auch fliegen konnten und er sich bestimmt nicht allzusehr von ihnen unterscheidet, aber er brachte es nicht übers Herz, das Risiko einzugehen, dass sein Flügelschlagen keine Wirkung zeigen und er abstürzen würde.

Und so wurde er immer älter. Wochen, Monate und Jahre vergingen, in denen er noch immer darauf angewiesen war, dass seine Eltern und seine Geschwister ihm Nahrung bringen, weil er nicht selbst losfliegen wollte.

Er stellte sich immer wieder vor, wie es wohl sei, zu fliegen, und was er alles tun könnte, würde er doch nur den ersten Schritt über die Schwelle machen und sich einfach hinabstürzen, loslassen, und einfach sehen, was passiert. Wahrscheinlich würde er unweigerlich anfangen, mit den Flügeln zu schlagen, wie all die anderen Störche vor ihm, und er wäre endlich frei, frei zu fliegen wohin er will und die Welt zu genießen. Er hatte es satt, immer nur diesen einen kleinen Ausschnitt aus seiner Umgebung zu sehen, nie weg zu können, aber er traute sich einfach nicht. Er war wie gelähmt.

Eines Tages aber kam seine Familie nicht mehr von einem ihrer vielen Ausflüge zurück, die sie gemeinsam unternommen hatten, ohne ihn. Er wartete, machte sich erst ein bisschen Sorgen, und als er merkte, dass seine Familie wohl tatsächlich nicht mehr wiederkam, wurde er immer verzweifelter. Neben dem Appetit nach Freiheit, den er schon seit Jahren nicht gestillt hatte, kam nun auch noch echter Hunger hinzu, denn es kam auch nach Tagen niemand, der ihm Nahrung brachte. Was sollte er tun?

Er befürchtete das Schlimmste. Vielleicht ist seine Familie verunglückt. Er musste sehen, wo sie waren, und er brauchte Nahrung, denn sonst würde er ohnehin sterben. Aber dazu musste er fliegen. Es blieb ihm kein anderer Ausweg.

Und so ging er an den Rand des Nestes, sein Herz pochte wie wild, er war so angespannt wie noch nie und hatte panische Angst. Doch es half nichts, seine letzte Chance, seine Familie und sich selbst zu retten, bestand darin, zu springen. Er hatte nichts mehr zu verlieren, und so sprang er.

Panisch schlug er mit den Flügeln und dachte, das wird doch nichts, ich kann nicht fliegen, gleich werde ich auf dem Erdboden zerschellen. Aber schon nach wenigen Schlägen merkte er, dass er nicht mehr weiter nach unten fiel, sondern immer stabiler wurde. Und so schlug er einfach weiter mit den Flügeln, und schlug, und schlug, und plötzlich merkte er: Ich fliege! Ich kann fliegen! Und es geht so einfach! Nur auf und ab, auf und ab!

Er flog und genoss, wie die warme Luft seinen Bauch umschmeichelte, wie sein Federkleid durch den Wind glitt und welche tollen Perspektiven er entdeckte. Er sah Orte, so bunt und schön wie nie zuvor. Er war überglücklich und stolz und träumte vor sich hin und fragte sich warum er sich diesen unglaublichen Genuss so lange selbst versagt hatte, als ihm wieder einfiel, weshalb er eigentlich losgeflogen ist, und so schlug er wieder fester mit den Flügeln und flog nicht weit in die Richtung, in die seine Familie einige Tage zuvor geflogen ist, als er plötzlich in der Ferne andere Störche sah.

Er flog auf sie zu, um sie um Hilfe zu bitten, da kamen sie ihm schon entgegen. Es war seine Familie, völlig wohlauf und guter Laune, die nichts weiter wollte, als ihm einen kleinen Stubs zu geben, das Fliegen zu lernen, das Fliegen, das ihm so viel Freude machte und das er so sehr genoss.

Und das Einzige, was ihn davon trennte, war ein kleiner Schritt über die Schwelle.

 

Über den Autor
Alexander Rubenbauer ist Psychologe (M. Sc.) und Psychologischer Psychotherapeut. Er bietet Psychotherapie sowohl persönlich in Herrieden bei Ansbach als auch über das Internet an. Er ist per E-Mail erreichbar.

 

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