Minimalismus
29. Februar 2012

Kann man zu viele Möglichkeiten haben?

Von Alexander Rubenbauer, Nürnberg
 

Was mich erstaunt, ist, dass wir, genau wie jemand, der nicht weiß, dass Salzwasser ihn immer durstiger macht, immer mehr nach Freiheit streben, die uns immer mehr nach Freiheit streben lässt.

Genau wie wenn wir Salzwasser trinken, werden wir nie genug Freiheit bekommen.

Der Weg zu mehr Beschränkung, der bewussten Beschränkung, und damit gewissermaßen sogar der bewussten Einengung (unserer Wahlmöglichkeiten), erscheint uns absurd, da wir – und damit meine ich die gesamte Gesellschaft – nach immer mehr Wahlmöglichkeiten streben, immer mehr Freiheit wollen.

Wir könnten schon morgen problemlos innerhalb weniger Stunden am anderen Ende der Welt sein – ein bisschen Geld in der Tasche vorausgesetzt. Wir könnten. Könnten dieses, könnten jenes.

Und genau darin besteht das Dilemma unserer modernen Zivilisation, da wir permanent abgleichen und vergleichen, ob es nicht woanders – an einem anderen Ort, mit anderen Menschen, anderen Beschäftigungen, anderen Dingen – besser wäre. Und damit verlieren wir das Jetzt aus den Augen.

Wir haben so viele Wahlmöglichkeiten, dass wir das Gefühl haben, wir wären faul, wenn wir nicht alles wahrnehmen. Unsere Lebenszeit ist begrenzt, und darum versuchen wir so viel wie nur irgendwie möglich reinzustopfen, alles zu verwirklichen, was auch nur kurz in unseren Gedanken als Möglichkeit aufgetaucht ist.

Ich persönlich wünschte mir manchmal, ich würde weniger können. Das soll nicht heißen, dass ich alles kann, aber es heißt, dass es von mir kleine und größere Brücken zu unterschiedlichen Fähigkeiten gibt: Programmieren, Schlagzeug spielen, Schreiben, Nachdenken über Psychologie und Philosophie, Lesen, und so weiter.

Wären diese Brücken gar nicht erst da, würde ich nicht in die Bredouille geraten, dauernd von meiner Insel des Ichs zu den anderen Inseln der Computer, des Schlagzeugs, des Schreibens und so weiter gehen zu müssen, um dort etwas zu verrichten.

Das klingt negativ – ich könnte ja auch einfach froh sein, “so viel” zu können, im Sinne von so viele Möglichkeiten zu haben. Allerdings geht damit auch die Qual der Wahl einher, und heutzutage betrachten es viele Menschen gar nicht mehr als Qual der Wahl, sondern als Qual der Verpflichtung, alles tun zu müssen, wozu man halbwegs in der Lage ist.

Oder warum schicken ehrgeizige Eltern ihre Kinder in deren Freizeit in fünf verschiedene Aktivitäten, und verfolgen diese ehrgeizig auf bestimmte Ziele, die es zu erreichen gilt?

Warum können die Kinder nach der Schule oder dem Kindergarten nicht einfach völlig sinnlos im Sand wühlen, auch wenn sie prinzipiell dazu in der Lage wären, Geige zu spielen? Und Tae-Kwon-Do zu machen? Und Mandarin zu lernen? Und mit der rechten Hand den Zauberwürfel lösen, während sie mit dem linken Fuß die Mona Lisa malen und gleichzeitig über die ungelösten Probleme der Mathematik nachdenken?

Ich denke wir müssen lernen, uns bewusst abzugrenzen, bewusst zu reduzieren, ohne Schuldgefühle oder Gefühle der “Verschwendung” von Talenten oder Zeit zu entwickeln.

Wir müssen verstehen, dass unsere Gesellschaft heute an einem Zuviel an Auswahl leidet. Wir müssen nicht alles tun, nicht alles probieren, nicht alles konsumieren.

Glaubt man, dass es nur dieses eine Leben gibt, ist es sinnvoller, sich auf das Wichtigste zu beschränken und seine Zeit in vollen Zügen zu genießen. Weniger arbeiten, ja weniger lernen, und mehr genießen (es sei denn man begreift lernen oder seine Arbeit als Genuss. Das geht jedoch nur, wenn man diese Beschäftigungen aus freien Stücken tut und nicht ständig daran denkt, was man noch alles tun könnte im Sinne von müsste).

Und wenn man glaubt, dass es mehrere (oder unendlich viele) Leben gibt, lohnt es sich erstrecht nicht, sich dermaßen abzuhetzen.

1 Zu diesem Artikel inspiriert hat mich der Artikel Lebenskunst: Die Fähigkeit, mit sich allein zu sein (€) von Rolf Haubl, erschienen in der Psychologie Heute Ausgabe 03 / 2009, in dem es unter anderem heißt: “Um mit Michael Young zu sprechen: Sie [die modernen Menschen] sind sich vermehrt bewusst, dass es andere Orte auf der Welt gibt, wo sie sein könnten, zusammen mit anderen Männern oder mit anderen Frauen, in anderen Zusammenkünften, bei anderen Konferenzen oder Ausstellungen, auf anderen Wanderwegen. Sie könnten andere Bücher lesen, in anderen Mondnächten.” und “Das Bild [Melencolia I von Albrecht Dürer] zeigt die geflügelte Figur in einer Entscheidungssituation: Sie besinnt sich, denkt nach. Allein. Nicht außer sich, sondern bei sich. Ohne Depression, aber in einer melancholischen Haltung, aus der heraus sie ihren Ehrgeiz besänftigt: mit ihrem Turm nicht immer höher hinauszuwollen, sondern sich mit einem nicht perfekten Werk und damit auch mit den Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu bescheiden. Solche Entscheidungen zu treffen setzt die Fähigkeit voraus, allein zu sein: sich zurückzuziehen, den bestehenden Handlungsdruck zu reduzieren, ohne die Angst zu haben, dadurch zu vereinsamen, weil man soziale Erwartungen nicht erfüllt.”

 

Über den Autor
Alexander Rubenbauer ist Psychologe (M. Sc.) und Psychologischer Psychotherapeut. Er bietet Psychotherapie sowohl persönlich in Herrieden bei Ansbach als auch über das Internet an. Er ist per E-Mail erreichbar.

 

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